Freitag, 12. Dezember 2008
lebens_läufe #3
bericht aus der krankenakte eines warschauer journalisten, 1907, aus dem archiv der dr. von ehrenwallschen klinik in ahrweiler:
"ich bin sechsundzwanzig jahre alt; mein vater leidet seit meiner geburt an neuralgie (von zeit zu zeit stärkere schmerzen in den beinnerven); meine mutter ist seit acht jahren gestorben, todesursache inneres (im bauche) krebsgeschwür... in den letzten jahren ihres lebens litt mutter stark an neurasthenie... im sechzehnten jahre meines lebens begann der onanismus. aus derselben zeit stammen auch die ersten neurasthenischen sympthome: gehirnerschöpfung, funktionelle ermüdung des unteren teils des rückgrates, schlechter schlaf (nicht schlaflosigkeit), allgemeines mattfühlen, geisteserdrückung etc. so dauerte es während acht jahren stets mehr oder weniger schlecht. heilmittel wurden nur natrium bromatum und hydrotherapie angewendet... die sommerkur und die auslandsreise nach wiesbaden und besonders zwei andere wichtige veränderungen haben eine besserung herbeigeführt, obgleich nur vorläufig. die zwei veränderungen sind: daß ich mit onanisieren und rauchen aufgehört habe. das erste vertauschte ich im frühling 1906 gegen das geschlächtsverhältnis mit einer prostituierten (während des winters onanismus sechs bis acht mal monatlich und ein bis zwei mal geschlechtsverhältnis mit demselben mädchen, an welches ich mich allmählich gewöhnte)... nach der rückkehr nach hause habe ich bemerkt, das geschlechtsverhältnis reizt und erschöpft mich, indem es gewisse schwer zu beschreibende empfindungen in den waden hervorruft... das hat mich sehr erschrocken; denn ich dachte an die schrecklichen beinschmerzen des vaters. deshalb entschloß ich mich, so wenig wie möglich zu gehen und so selten wie möglich die frau zu benutzen...
viel wichtiger als die beschreibung materieller symptome der krankheit ist nach meinem erachten das bild ihrer psychischen grundlage. es gibt drei urquellen meines onanismus und meiner unerträglichen gehirnentkräftung, die mich an jeder ernsten, so sehnsüchtig begehrten arbeit hindert: 1. ein geerbtes, von der geburt stammendes geistiges gebrechen: die schüchternheit; 2. eine geistige naturgabe: die stark entwickelte phantasie; 3. ein eingeborener malkontentismus, eine grundsätzliche unzufriedenheit mit den zeitgenössischen kultur- und lebensformen."
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